Wildwasser Wiesbaden veröffentlicht Tätigkeitsbericht 2021
Presseerklärung anlässlich der Veröffentlichung des Tätigkeitsberichts 2021 von Wildwasser Wiesbaden e.V.
Pressekonferenz am 09.11.2022
Wildwasser Wiesbaden e. V. unterstützt seit 35 Jahren Betroffene von sexualisierter Gewalt, schützende und/oder unterstützende Angehörige sowie Fachkräfte, die sich für betroffene Mädchen und Jungen einsetzen oder Sorge haben, dass ein ihnen anvertrautes Kind von sexualisierter Gewalt betroffen sein könnte. Darüber hinaus wollen die Mitarbeiterinnen durch (Schul-)Prävention dazu beizutragen, dass Mädchen und Jungen keine sexualisierte Gewalt widerfährt und dass bereits betroffene Kinder sich Hilfe holen können.
Anlässlich der Pressekonferenz am 09.11.2022 informierten Dr. Kristin Ideler, die Geschäftsführerin von Wildwasser Wiesbaden e.V., und Anika Nagel, eine in Beratung und Prävention tätige Mitarbeiterin, über die Aktivitäten der Fachberatungsstelle im Jahr 2021.
Gesamtzahl der Meldungen zu sexualisierter Gewalt von 2014 bis 2021
Wie Frau Dr. Ideler berichtete, ist 2021 die Gesamtzahl der Meldungen im Vergleich zum Vorjahr um 8 % gestiegen und erreicht damit fast wieder das Niveau von vor Corona.
Diese Problematik spiegelt sich auch eklatant in den Meldungen wieder. Der Anstieg bezieht sich auffälliger Weise ausschließlich auf die Gruppe der Grundschulkinder und Jugendlichen (7 bis 18 Jahre).
Die Meldungen zu kleinen Kindern (0 bis 6 Jahre) waren fast identisch wie 2020 (84 versus 89). Die Meldungen zu betroffenen Frauen und Männern nahmen leicht zu (219 gegenüber 211).
Verteilung nach Alter der von sexualisierter Gewalt Betroffenen zum Zeitpunkt der Meldung im Berichtsjahr 2021
Bei den Meldungen bezüglich der Gruppe der 7 bis 18-Jährigen gab es eine Steigerung um 16% Prozent (190 versus 164 Meldungen). Es ist anzunehmen, dass Kinder und Jugendliche dieser Altersgruppe wieder mehr Chancen hatten, sich Hilfe zu holen, nachdem Schulunterricht und andere Aktivitäten (z. B. Sport) wieder in Präsenz stattfanden und damit Lehrer*innen und Schulsozialarbeiter*innen für die Kinder und Jugendlichen wieder erreichbar waren. Auch ein Teil unserer Schulpräventionsveranstaltungen, bei denen sich Betroffene direkt an uns wenden können, konnten wieder stattfinden.
Lokale Verteilung der Meldungen
2021 stammten 82% der Meldungen aus den Regionen Wiesbaden, Rheingau-Taunus-Kreis und Main-Taunus-Kreis. Für diese Regionen ist die Fachberatungsstelle zuständig. Da Wildwasser Wiesbaden e.V. beispielsweise durch unser nicht regional begrenztes Fortbildungsangebot auch überregional sehr bekannt ist, kamen 19% der Anfragen aus anderen Regionen. Solche Anrufende werden dann – sofern möglich – über Fachberatungsstellen in der Nähe der Anrufenden informiert.
In 2021 kamen etwas mehr Ratsuchende zur persönlichen Beratung (317 Personen gegenüber 280 im Vorjahr). Zur persönlichen Beratung zählen auch über den Erstkontakt hinausgehende vertiefende Telefonberatungen und Videoberatungen. Diese Videoberatungen wurden von manchen Ratsuchenden sehr gern angenommen. Die für die persönliche Beratungsarbeit Arbeit eingesetzte Arbeitszeit stieg um 18%, da viele Betroffene pandemiebedingt in zusätzliche Krisen kamen und einen erhöhten Beratungsbedarf hatten.
Wie jedes Jahr waren über die Hälfte (57%) der beratenen Personen betroffene Mädchen ab 11 Jahren (eine war noch jünger) und Frauen. 28% der Ratsuchenden stammten aus dem privaten Umfeld der Betroffenen (Mütter, Väter und andere Personen). Fachkräfte nahmen ein Fünftel der Beratungen in Anspruch.
Etwas über ein Drittel (34%) der Betroffenen nahmen persönlich den Erstkontakt zu uns auf. Neben Unterstützungspersonen wurden in mehr als der Hälfte der Fälle (57%) Betroffene beraten. Gerade Kinder und Jugendliche dagegen beginnen die Beratung häufig durch Unterstützung durch deren Eltern oder Fachkräfte. In vielen Fällen können sie den Betroffenen „Brücken bauen“, sodass diese (auch) selbst zur Beratung kommen. Frau Dr. Ideler ermutigt daher alle Menschen, die sich Sorgen um ein Mädchen oder einen Jungen machen oder denen sich ein Kind oder ein*e Jugendliche*r anvertraut hat, Kontakt zur Beratungsstelle aufzunehmen, und das auch, wenn noch nicht klar ist, was genau vorgefallen ist.
Zeitpunkt und Dauer der Gewalt
In 14% der Meldungen handelte es sich 2021, soweit uns das mitgeteilt wurde bzw. sich die Betroffenen erinnern konnten, um einmalige sexualisierte Gewalt.
In den anderen 86% waren Kinder, Jugendliche oder Erwachsene mehrmals und damit über längere Zeiträume von sexualisierter Gewalt betroffen.
Die Beratungsstelle fordert deutlich, dass es mehr Prävention aber auch Unterstützungsangebote geben muss. Denn 4% aller Ratsuchenden waren in allen Lebensphasen (Kindheit, Jugend, als Erwachsene) von sexualisierter Gewalt betroffen. Das bedeutet auch, dass es entweder sehr lange gedauert hat, bis Schutz hergestellt werden konnte, oder Betroffene durch die bereits stattgefundene sexualisierte Gewalt mehrfach (durch mehrere Täter*innen) betroffen sind oder waren.
Frau Dr. Ideler und Frau Nagel berichten darüber hinaus, dass sie sich im Sommer und Herbst diesen Jahres mit einer groß angelegten Öffentlichkeitsaktion zum Thema „Soforthilfe nach Vergewaltigung“ einer besonderen Zielgruppe zuwandten. Mit einer Bettenaktion auf dem Wiesbadener Marktplatz wurden an mehreren Tagen Flyer verteilt und auf die Möglichkeit der medizinischen Versorgung hingewiesen. Die Besonderheit bei diesem Projekt, das das Kommunale Frauenreferat der Landeshauptstadt Wiesbaden implementiert hat, ist, dass Betroffene auch Spuren sicher stellen lassen können und ein Jahr Bedenkzeit bzgl. einer möglichen Anzeige haben. Wer mehr zu diesem Projekt erfahren möchte, kann sich auf der Website von Wildwasser Wiesbaden e.V. informieren. Weiterhin besteht die Möglichkeit am Internationalen Tag gegen Gewalt, dem 25.11.2022, zu der Aktion „Zonta says No“ zu kommen, bei der auch Wildwasser Wiesbaden e.V. vertreten sein wird.
Sexualisierte Gewalt ist nie nur ein individuelles Schicksal, sondern im auch ein gesellschaftliches Phänomen. Aus diesem Grund setzt sich Wildwasser Wiesbaden e.V. mit einem feministischen Grundverständnis für Gleichberechtigung ein. Besonders erfreulich ist aus diesem Grund, dass die von Wildwasser Wiesbaden e.V. empowerte Mädchengruppe „die feministischen Fritten“ ein Angebot schafft, bei dem sich betroffene und nicht betroffene Mädchen mit politischen Themen auseinandersetzen und auch Aktionen durchführt. Auch die feministischen Fritten sind am 25.11. bei „Zonta says No“ mit einer Aktion dabei.
Auch im Jahr 2021 engagierte sich Wildwasser Wiesbaden e.V. bei One Billion Rising. Diese weltweite Aktion gegen Gewalt an Frauen und Mädchen moderierte Anika Nagel von Wildwasser Wiesbaden bereits zum vierten Mal. Pandemiebedingt fand die Tanzaktion in einer kleineren Gruppe statt und machte an mehreren Stationen in der Innenstadt und bei verschiedenen Einrichtungen halt, die von Gewalt betroffene Frauen- und Mädchen unterstützen. Der Tanz war dem Femizid an Sevinc M. gewidmet, die 2021 von ihrem Mann in der Wellritzstraße erschossen wurde.
Mit Blick auf die aktuelle politische Situation schaut die Beratungsstelle sorgenvoll in die Zukunft. Der Krieg in der Ukraine und die geschlechtsspezifische Gewalt, der mit starken regimekritischen Protesten entgegnet wird, sind herausfordernde Themen, die immer auch (sexualisierte) Gewalt gegen Mädchen und Frauen bedeuten.
Dieser geschlechtsspezifischen Gewalt muss ein friedliches und demokratisches Verständnis entgegnet werden. Doch mit Blick auf die massiv erhöhten Energiekosten und die steigende Inflation sind Fachberatungsstellen gegen sexualisierte Gewalt in einer kritischen Situation, da diese nach wie vor nicht kostendeckend finanziert sind.
Aus diesem Grund freut sich Wildwasser Wiesbaden e.V. immer über Spenden.
Wildwasser Wiesbaden bildet in normalen Jahren um die 1.000 Fachkräfte und mehr weiter. Viele Seminare des umfangreichen Fortbildungsprogramms waren 2021 gut nachgefragt, auch externe Fortbildungen in Teams und Einrichtungen für Inhouse-Fortbildungen.
Die Veranstaltungen konnten jedoch nicht alle in Präsenz stattfinden und auch aufgrund der notwendigen Hygienekonzepte nur in begrenzter Gruppengröße.
Fortgebildete Fachkräfte
In 2021 konnten unter den weiter vorherrschenden Pandemiebedingungen dennoch mehr Präsenzveranstaltungen stattfinden als im Vorjahr. Daher wurden im Jahr 2021 insgesamt nur 518 Fachkräfte geschult, das war etwa 13% mehr als im Vorjahr (394).
Die geringen Fortbildungsmöglichkeiten sind nicht nur bezüglich unserer dadurch stark reduzierten einnahmen fatal, sondern auch im Hinblick darauf, dass wir es für ausgesprochen wichtig halten, interessierte Fachleute zeitnah und fundiert zu Schulen, um dazu beizutragen, dass Kinder und Jugendliche überall dort, wo sie sich aufhalten, kompetente, achtsame Vertrauenspersonen vorfinden.